Die Formulae imperiales und die Urkunden Ludwigs des Frommen
Résumé
Das Formular der Urkunden hat unter Kaiser Ludwig dem Frommen († 840) eine grundsätzliche Überarbeitung und Stabilisierung erfahren. Zeugnis dieser Entwicklung gibt nicht zuletzt die aus dem Umkreis der kaiserlichen Kanzlei überlieferte Sammlung der Formulae imperiales, die auf realen, tatsächlich ausgefertigten Diplomen des Karolingers beruhen. Dieses Korpus, unikal überliefert im Cod. Lat. 2718 der Bibliothèque nationale in Paris, ist immer wieder als offizieller Formularbehelf der kaiserlichen Kanzlei angesehen worden. Dabei lässt schon die Überlieferungssituation Bedenken an dieser Deutung aufkommen. Ein Vergleich der Formeltexte mit den 418 auf uns gekommenen Urkunden Ludwigs des Frommen bestätigt diese Zweifel : Es lässt sich nicht nachweisen, dass die Sammlung tatsächlich als allgemein verbindliche Vorlage diente, die Kanzleimitarbeiter bei der Urkundenausstellung unmittelbar vor Augen hatten. Der Befund deutet vielmehr auf die variable, ‘mosaikartige’ Verarbeitung erlernten und durch häufigen Gebrauch dem Gedächtnis fest eingeprägten Formularguts, das die Notare flexibel und sicher handhabten. Bei den Formulae imperiales handelt es sich vermutlich um die private, unsystematische Gelegenheitssammlung eines in der Kanzlei tätigen Notars. Sie boten allenfalls eine Orientierung im Bedarfsfall. Am Hofe Ludwigs des Frommen genossen sie keinen wie auch immer gearteten ‘amtlichen’ Status.
Einleitung
Vom Formular der Urkunden Ludwigs des Frommen († 840) ist bekanntermaßen überaus Positives zu berichten1 : Es wird gegenüber jenem der Vorgänger beständiger, erfährt eine spürbare Festigung und Stabilisierung, ja es ist gerade die Kanzlei des zweiten Karolingerkaisers, die « neue Formulierungen für die schriftliche Fixierung wichtiger, ja zentraler Rechtsfiguren der Verfassung des fränkischen Rechts geschaffen »2 und für die Folgezeit geprägt hat3. Zeugnis dieser Entwicklung gibt nicht zuletzt die aus dem Umkreis der kaiserlichen Kanzlei überlieferte Sammlung der sogenannten Formulae imperiales4. Mit diesem Korpus habe ich mich im Rahmen meiner Dissertation ausführlich beschäftigt5. Einige meiner Ergebnisse seien hier vorgestellt.
Die Formulae imperiales, wie die anderen frühmittelalterlichen Formelsammlungen im M.G.H. Formulae-Band Karl Zeumers ediert6, bedeuteten für die seit 2004 in Bonn erarbeitete Edition der Urkunden Ludwigs des Frommen7 « einen Glücksfall und zugleich eine harte Nuß »8. So konnte die Texterstellung ein ums andere Mal von dem in den Formulae imperiales gespiegelten Kanzleiformular profitieren. Zu verweisen ist an dieser Stelle vor allem auf die zahlreichen Emendationen und Korrekturen verderbt überlieferter Urkundentexte, die auf dieser Grundlage möglich wurden. Darüber hinaus musste aber zwangsläufig auch die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis der beiden Quellenkorpora und der Rolle der Formulae imperiales in der Kanzlei Ludwigs des Frommen virulent werden. Hat man in ihnen ein konkretes Arbeitsinstrument der Kanzlei zu sehen? Haben sie den dort tätigen Notaren als offizielle Vorlagensammlung gedient, auf die bei der Erstellung der auszufertigenden Diplome rekurriert wurde? Um diese Fragen zu beantworten und zu einer belastbaren Bestimmung des Verhältnisses von Formelsammlung und Ludwigsdiplomen zu gelangen, galt es, dem konkreten Gebrauch des in den Formulae imperiales gespiegelten Formulars in den über 400 auf uns gekommenen Urkunden9 nachzugehen10. Damit verbunden sind Fragen zu Genese, Funktion und grundsätzlichem Charakter der Formulae imperiales wie auch generell zur Praxis ludowicianischer Urkundenkonzeption und zur Arbeitsweise der Kanzlei Ludwigs des Frommen.
I. Die Formulae imperiales – eine erste Annäherung
I.1. Überlieferungszusammenhang
Die Formulae imperiales werden unikal überliefert vom berühmten Cod. lat. 271811 der Bibliothèque nationale de France in Paris, einer schlichten Gebrauchshandschrift aus dem Kloster St-Martin in Tours, die von der Forschung in die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts – genauer : um 830 – datiert wird12. Der Kodex enthält überwiegend theologische Texte, darunter Werke von Augustinus, Cyprian, Caesarius von Arles und Johannes Chrysostomos13. Dazwischen eingestreut findet sich ein Brief Karls des Großen an Alkuin und die Gemeinschaft von St-Martin14, eine Reihe von Kapitularientexten aus den Jahren 817 bis 82115 und schließlich die Formulae imperiales. Letztere sind in acht Gruppen über die Handschrift verteilt und überwiegend in Tironischen Noten geschrieben16.
Es handelt sich um insgesamt 55 Formeln, von denen 52 als Herrscherurkunden, als kaiserliche Diplome Ludwigs des Frommen anzusehen sind17. Bei allen 55 Texten haben wir es nicht mit frei konzipierten, gleichsam erfundenen Formeln zu tun, sondern es zeigt sich deutlich, dass der Redaktor reale, tatsächlich ausgefertigte Urkunden Ludwigs des Frommen benutzt und zu Formeln umgearbeitet hat. Dies geschah – wie bei Formeln üblich – jeweils unter Auslassung der Eingangsformeln und des Eschatokolls sowie durch eine Anonymisierung der individuellen Merkmale (Personennamen, Ortsnamen, Patrozinien etc.). Gerade diese Anonymisierung aber ist im Falle der Formulae imperiales nicht konsequent durchgeführt worden, sodass aus den belassenen Einzelmerkmalen ersichtlich wird, dass reale Diplome als Vorlage gedient haben müssen.
I.2. Entstehungsort, Datierung und Autor
Entstanden ist die Sammlung – daran kann kein Zweifel bestehen – im direkten Umkreis der Kanzlei Ludwigs des Frommen. Wo sonst hätte man sich Kenntnis all dieser Urkunden verschaffen können, noch dazu gerichtet an ein Empfängerspektrum, das sich geographisch gesehen über das gesamte Reich erstreckt? Wo sonst wird man ein besonderes Interesse an einer Sammlung wie den Formulae imperiales annehmen dürfen, wenn nicht in der Kanzlei selbst18? Datieren lässt sich die Zusammenstellung mit Theodor Sickel sicher in die Jahre 828-84019. Sickel hat den mutmaßlichen Entstehungszeitraum der Formulae imperiales sogar noch enger einzugrenzen versucht : Er hat ihre Zusammenstellung mit der Kanzlerschaft des Fridugis in Verbindung gebracht20, und große Teile der späteren Forschung sind ihm hierin gefolgt. Fridugis stand nicht nur von 819 bis 832 der kaiserlichen Kanzlei vor21, sondern fungierte auch seit 808 als Abt von St-Martin in Tours, jenem Kloster also, aus dem die Handschrift nachweislich stammt. Manchen gilt Fridugis geradezu als leitender Kopf der Zusammenstellung, als Spiritus Rector des Unternehmens22. Bei Annahme einer Entstehung unter Fridugis müsste die Sammlung folglich bis 832 zu einem Abschluss gekommen sein.
I.3. Inhalt und Sachbetreffe
Inhaltlich lässt sich konstatieren, dass alle gängigen Urkundentypen, wie sie die Überlieferung bewahrt hat, auch in den Formulae imperiales vertreten sind. Betreffe wie Immunität und Königsschutz, Zollfreiheit, Güterschenkungen, Besitzrestitutionen, Tauschbestätigungen – kurz : das, was man als « das tägliche Brot eines frühmittelalterlichen Herrschers »23 wird bezeichnen können – haben auch Eingang in die Formelsammlung gefunden. Die im Vergleich zum überlieferten Urkundenbestand nicht vertretenen Betreffe sind zumeist speziellerer Natur : Rechtsmaterien wie Münze24, Klosterreform25, Jagd26 oder die Bestätigung von Diözesangrenzen27 mögen als Stichworte genügen. Daneben erscheinen in den Formulae imperiales aber auch mancherlei Betreffe, die sich nicht in Ausfertigungen erhalten haben und insbesondere die Belange von Laien berühren. Dazu zählen etwa die Aufnahme von Einzelpersonen in den Schutz des Herrschers (Form. imp. 48, 55)28 sowie Gewährung, Sicherung und Restitution persönlicher Freiheit (Form. imp. 1, 5, 8, 9, 14, 45, 51, 53)29. Auch die drei für Juden bzw. jüdische Gemeinschaften ausgestellten Privilegien (Form. imp. 30, 31, 52)30 mit den umfangreichen darin verbrieften Rechten und getroffenen Regelungen finden im überlieferten Urkundenbestand Ludwigs des Frommen keine Entsprechung. Die Formulae imperiales lassen folglich die Vielgestaltigkeit des Urkundengeschäftes unter Ludwig dem Frommen deutlicher hervortreten als der überlieferte Urkundenbestand31. Bemerkenswert ist vor allem der Anteil der an Laien gegebenen Stücke, nämlich gut die Hälfte32. Eine solche Relation findet im Korpus der überlieferten Ludwigsdiplome keine auch nur annähernde Entsprechung. Hier dominieren eindeutig die geistlichen Empfänger. Das verwundert indessen nicht, hatten die für Laien ausgestellten Urkunden doch in der Regel nur dann eine Chance überliefert zu werden, wenn sie auf irgendeinem Weg in ein kirchliches Archiv gelangten. Der Befund der Formulae imperiales lässt immerhin erahnen, wie vieles hier im Laufe der Zeit verloren gegangen sein muss. Auch wenn wir natürlich kein methodisches Korrektiv besitzen, steht fest, dass die Urkundenausstellung an weltliche Empfänger weitaus höher zu veranschlagen sein dürfte, als es die Überlieferung auf den ersten Blick vermuten lässt33. Wie insbesondere Warren C. Brown und Alice Rio jüngst gezeigt haben34, sind es nicht umsonst vor allem die frühmittelalterlichen Formelsammlungen, die uns wertvolle Einblicke in die Rechtsbelange und die Schriftlichkeit von Laien gewähren.
II. Vergleich mit den Urkunden Ludwigs des Frommen
II.1. Formeltexte mit überlieferter Vorlage
Beim Blick auf den Gebrauch des in den Formulae imperiales gespiegelten Formulars ergibt sich ein differenziertes Bild35. Zunächst ist festzuhalten : Für insgesamt fünf der Formeltexte (Form. imp. 11b, 15, 20, 29b, 39)36 existiert neben der in den Formulae imperiales tradierten Textform eine separate Überlieferung. Mit anderen Worten : Das zugrunde liegende Diplom, die Urkunde also, die der Formel offensichtlich als Vorlage gedient hat, ist als solche auf uns gekommen und somit natürlich auch Gegenstand der künftigen Ludwigsedition37. In einem Fall (Form. imp. 11b) ist die Vorlage (BM² 753 für die Bischofskirche von Paderborn) sogar im Original erhalten. Als interessant erweist sich auch Form. imp. 20, eine Bestätigung der Zollfreiheit, die mit BM² 544 in Verbindung zu bringen ist. Da die Urkunde selbst nur in einer schlechten Abschrift auf uns gekommen ist, muss der Editor hier auf den Text der Formulae imperiales zurückgreifen38.
II.2. Voll- und Teilentsprechungen
Von solchen seltenen Parallelüberlieferungen abgesehen, stellt sich das Verhältnis zwischen Formelsammlung und Urkundenkorpus wie folgt dar : Formulae imperiales-Diktat ist vor allem in einem Fall in ganz ausgeprägtem Maße zu beobachten, nämlich bei den in großer Zahl überlieferten Tauschbestätigungen Ludwigs des Frommen39. Für diese hat die Kanzlei, wie schon von Philippe Depreux festgestellt40, fast durchweg ein standardisiertes Formular benutzt, das Form. imp. 3 entspricht41. Abweichungen hiervon sind nur in Ausnahmefällen zu verzeichnen42. Fassungen, die einem der Formulae imperiales-Texte in Gänze oder doch in wesentlichen Teilen entsprechen, lassen sich darüber hinaus vor allem in Immunitätsurkunden, Zollbefreiungen und Schenkungen greifen43. Hier ist dies allerdings deutlich seltener der Fall als bei den Tauschbestätigungen. Insgesamt können wir lediglich in knapp jeder siebten Urkunde die Vollentsprechung mit einer Formel konstatieren ; lässt man die Tauschbestätigungen unberücksichtigt, handelt es sich sogar nur um jede vierzehnte. Selbst wenn man Faktoren in Rechnung stellt, die die Zahl potentieller Übereinstimmungen von vornherein reduzieren – zu denken ist etwa an Fälschungen, Empfängerdiktate oder die nicht vollständige Kongruenz der Rechtsbetreffe zwischen Formel- und Urkundenkorpus –, nimmt sich diese Zahl nicht übermäßig hoch aus. Entsprechendes gilt, wenn man die Übereinstimmungen von den Formulae aus betrachtet : Hier begegnet nur ca. jede dritte Formel einmal oder öfter in Vollentsprechung. Rund zwei Drittel der Formulare lassen sich entweder überhaupt nicht im Urkundenkorpus greifen oder tauchen lediglich in einzelnen Textbestandteilen auf. Solche Teilentsprechungen finden sich zwar in einer Vielzahl von Urkunden ; sie beschränken sich in der Regel jedoch auf einzelne Klauseln oder kurze Passagen. Oft finden sich nur Versatzstücke einer Formel.
II.3. Mischformulare
Als weiteres Phänomen neben den Voll- und Teilentsprechungen sind die Fälle zu nennen, in denen wir es mit einer Art ‘Mischformular’ zu tun haben. Hier scheinen Elemente verschiedener Formulae-Texte miteinander kombiniert. Besonders häufig lässt sich eine solche Konstellation bei der Gruppe der Immunitäts- und Schutzurkunden beobachten44. Diese – aber auch andere Urkundentypen – entsprechen oftmals nicht einer der einschlägigen Formeln, sondern Bestandteile verschiedener Formulae scheinen gleichsam ineinander verwoben. Solche ‘Amalgame’ lassen sich in zwei Gruppen unterteilen : Im günstigeren Fall können die Elemente der verschiedenen Formulae einigermaßen klar voneinander unterschieden werden, indem etwa die erste Hälfte der Urkunde mit der einen Formel und die zweite mit einer anderen in Übereinstimmung zu bringen ist. Als eines von zahlreichen Beispielen mag an dieser Stelle BM² 998, die Verleihung der freien Abtswahl an das Kloster Kempten vom 1. September 839, dienen: Zunächst geht sie mit Form. imp. 11b einher und entspricht im eigentlichen Abtswahlpassus dann erwartungsgemäß Form. imp. 4.
Aber bei weitem nicht immer lassen sich die einzelnen Bausteine so klar voneinander scheiden. Nicht selten ist der Formularbefund sehr viel komplexer. Elemente einer ganzen Reihe einschlägiger Formeln aufnehmend, stellen sich die Dinge bei vielen Urkunden derart verwickelt dar, dass sinnvolle Aussagen über Entsprechungen mit der einen oder der anderen Formel unmöglich werden45. Insgesamt ergibt sich somit ein relativ komplexer Befund, der uns zur Frage nach dem grundsätzlichen Charakter und der Funktion der Formulae imperiales führt.
III. Bedeutung für die Bewertung der Formelsammlung
III.1. ‘Offizielles Kanzleiinstrument’ oder ‘Gelegenheitsammlung’?
Gerade in der älteren Literatur liest es sich nicht selten so, als habe man in den Formulae imperiales ein offizielles Kanzleiinstrument, gleichsam die amtliche, von allen Notaren zu konsultierende Mustersammlung der Kanzlei Ludwigs des Frommen zu sehen46. Vor dem Hintergrund des Gesagten spricht aber wenig für eine solche Charakterisierung. Zwar spiegeln die Formeln ganz zweifellos gängiges Urkundendiktat der Kanzlei Ludwigs des Frommen ; es lässt sich aber nicht nachweisen, dass die uns hier überlieferte Zusammenstellung tatsächlich als allgemein verbindliche Vorlage diente, die Kanzleimitarbeiter bei der Urkundenausstellung unmittelbar vor Augen hatten. Der Befund deutet vielmehr auf die variable, quasi ‘mosaikartige’ Verarbeitung erlernten und durch häufigen Gebrauch dem Gedächtnis fest eingeprägten Formularguts, das die Notare relativ sicher zu handhabten und entsprechend flexibel einzusetzen vermochten, ohne dabei jeweils auf starre Vorlagen zurückgreifen zu müssen.
Der Formularvergleich stützt insofern die in der jüngeren Forschung schon vor dem Hintergrund der Überlieferungssituation geäußerte Vermutung, dass es sich beim Cod. lat. 2718 nicht um ein offizielles, allgemein zugängliches Werk handelte47. Der Kodex erscheint mit seinem kleinen, unregelmäßigen Querformat, hergestellt unter Verwendung von Pergamentresten, und seiner Mischung aus theologischen Texten, Kapitularien und Formulae wie die Kompilation eines in der Kanzlei tätigen, wohl mit St-Martin in Tours verbundenen Notars und Hofgeistlichen. Wahrscheinlich handelt es sich um ein für den persönlichen Gebrauch angefertigtes, über einen längeren Zeitraum entstandenes Hand- und Notizbuch, eine Art privates Konzeptheft. Die gemischte Zusammenstellung und dichte Anordnung der Texte – man denke nicht zuletzt an die in acht Gruppen über den gesamten Kodex verteilten Formeln – lassen jedenfalls nicht an ein offizielles Referenzwerk der Gesamtkanzlei denken, das einer größeren Zahl von Notaren eine rasche Orientierung innerhalb der Handschrift und eine effektive Nutzung der Texte erlaubt hätte.
In der Zusammenschau spricht vieles dafür, in den Formulae imperiales eine Art unsystematische Gelegenheitssammlung48, ja eine bis zu einem gewissen Grade zufällige Kompilation zu sehen. Für eine solche Charakterisierung sprechen im Übrigen auch weitere Indizien, etwa jene Immunitäts- und Schutzbestätigung für Tours (BM² 629), die als Form. imp. 29b Eingang in die Sammlung gefunden hat und mit ihrem vollkommen ungewöhnlichen Formular, « plus ou moins isolé parmi les diplômes de Louis le Pieux »49, unter den sonstigen Immunitätsurkunden eine Sonderstellung einnimmt50. Man kommt nicht umhin, sich die Frage zu stellen, aus welchem Grund ein derart außergewöhnlicher Text, dem für das konkrete Beurkundungsgeschäft wenig Nutzen beigemessen werden kann, Aufnahme in die Sammlung gefunden hat. Keineswegs abwegig erscheint die Vermutung, dass hierbei weniger pragmatische Erwägungen, d. h. die Verwendbarkeit im Rahmen der praktischen Urkundenerstellung, als vielmehr die besondere Bedeutung des Stückes für das Heimatkloster des Kompilators im Vordergrund des Interesses gestanden haben könnte.
III.2. (Be-)Nutzung und Zweck
Die Identifizierung der Formeln als private Gelegenheitssammlung schließt die verschiedentliche Heranziehung der Texte für die konkrete Urkundenproduktion natürlich nicht aus, denn als Formeln, d. h. als Mustertexte zur Erstellung von Urkunden, sind sie zweifellos konzipiert und gedacht. Möglich ist, dass bei der Zusammenstellung des Cod. lat. 2718 der in diesem Zusammenhang oft genannte Touroner Mönch Hirminmaris51 eine Rolle gespielt haben könnte, der von 816 bis 839 als Rekognoszent in der kaiserlichen Kanzlei belegt ist52. Zumindest dürfen ihm als Kanzleimitarbeiter Ludwigs des Frommen gute Einblicke in die Urkundenproduktion und sonstigen Geschäfte des Reiches unterstellt werden ; seine Herkunft würde die Häufung theologischer Texte und St-Martin betreffender Inhalte erklären53.
Von Interesse wäre außerdem, ob wir in den auf uns gekommenen Formeln eine originäre Sammlung vor uns haben oder vielmehr die partielle, unsystematische Abschrift aus einer umfangreicheren Kanzleisammlung. Der Gedanke an eine solche Vorlage mag auf den ersten Blick als willkommener Ausweg erscheinen, um die geringe Zahl von Vollentsprechungen zu erklären ; er lässt sich aber schwerlich mit der Struktur der erhaltenen Kompilation vereinbaren. Deren Umfang und thematische Ausgewogenheit deuten darauf hin, dass eine vermeintliche Vorlage kaum umfangreicher gewesen sein kann als das auf uns Gekommene. Wenn es eine ältere Sammlung gab, hätte sie wohl weitgehend mit den im Cod. lat. 2718 erhaltenen Formeln identisch sein müssen.
Die Konsequenzen liegen auf der Hand : Die Formulae imperiales und eventuelle weitere schriftliche Muster boten nach Lage der Dinge – und das bleibt festzuhalten – lediglich eine Orientierung im Bedarfsfall ; sie genossen keinen offiziellen, sozusagen ‘amtlichen’ Status, dem es sich gänzlich zu unterwerfen galt. Die auf uns gekommene Sammlung und die in den Urkunden immer wieder begegnenden Varianzen sprechen für die ausgeprägte Befähigung der Notare, gängige Wendungen und Schemata zu memorieren und – um mit Theodor Sickels Worten zu sprechen – « sich ohne aus der Construction zu fallen in allerlei Varianten [zu] bewegen »54. In dieselbe Richtung geht das Urteil Edmund E. Stengels, der mit Blick auf die Entstehung der Immunitätsurkunden resümiert : « Bei der Arbeit […] erwarben die Schreiber bald eine solche Routine, daß sie zwar im allgemeinen an einem Muster festhielten – und das kon[n]te sowohl eine in ihrem Gedächnis haftende Formel wie eine Urkunde sein –, dann aber doch halb schematisch wie sie vorgingen, in Wendungen aus anderen Fassungen verfielen. »55 Was Stengel und Sickel nur vermuten bzw. mit Blick auf bestimmte Betreffe postulieren konnten, lässt sich durch den Textvergleich für das gesamte Korpus belegen.
Schlussfolgerungen
Dieser Befund bleibt nicht ohne Auswirkungen auf unser Verständnis von Kanzlei und Schriftlichkeit im Umfeld Ludwigs des Frommen : So wird man in der Kompilation der Formulae imperiales nicht länger eine karolingerzeitliche Formelsammlung im strengen Sinne sehen können, wie man sie sich bis in die jüngste Vergangenheit lange Zeit idealtypisch vorstellte56. Alice Rio bemerkt völlig zu Recht : « […] these formulae cannot be considered as an ‘official’ collection in any but the most limited sense : that is, that the owner of the manuscript could have used them to produce official documents, which hardly amounts to the same thing. »57 In der Tat : Der Betreffende dürfte seine Privatarbeit dazu genutzt haben, um Urkunden auszustellen oder die hierfür notwendigen Kenntnisse weiterzuvermitteln. Fraglos haben wir also eine Art Formelsammlung vor uns ; diese Art von Formelsammlung hat aber wenig mit dem gemein, was man sich nur allzu schnell unter einer solchen Kompilation zu denken geneigt ist. Ein kanzleioffizielles Formularhandbuch, mithin ein Kanzleibehelf im eigentlichen Sinne, sind die Formulae imperiales nie gewesen. Von aus den anstaltsstaatlichen Strukturen des 19. Jahrhunderts erwachsenen Vorstellungen, wie sie das Bild der Kanzlei so nachhaltig geprägt haben, muss man sich auch in Bezug auf diese Sammlung verabschieden.